„Traditionelle Vorstellungen von Berufsbildern aufbrechen“
Die Preisträgerin Dr. Marion Koelle erläutert im Interview ihre Forschung und plädiert für mehr Vielfalt in der Arbeitswelt.
Liebe Frau Dr. Koelle, Sie sind die Gewinnerin des neu aufgelegten Helene-Lange-Preises für Digitalisierungsforschung. Können Sie Ihre Forschungsarbeit, bei der es um die soziale Akzeptanz körpergetragener Kameras geht, in wenigen Sätzen erläutern?
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich eine intelligente Kamerabrille entwickelt: Helfen könnte diese Technik beispielsweise älteren Menschen, die etwa im Supermarkt Erklärungen zu Begriffen oder Abkürzungen (z.B. E27) auf Verpackungen benötigen oder Schwierigkeiten haben, das „Kleingedruckte“ zu entziffern. Die „intelligente“ Brille könnte dann das „Lesen“ für die Person übernehmen. Der Clou dabei ist: Die Kamera schaltet sich automatisch ab, wenn sie versehentlich andere Leute oder vertrauliche Informationen – etwa die auf einer Kreditkarte – aufnehmen könnte. Die Kameralinse ist dann mit einem sogenannten Shutter verdeckt und sieht aus wie ein geschlossenes Auge. Dieser öffnet sich automatisch und erst dann, wenn die Kamera wieder gebraucht wird. Für andere Personen ist somit direkt ersichtlich, ob die Kamera gerade an oder aus ist.
Das klingt wirklich spannend – und hat die siebenköpfige Jury überzeugt, Sie aus 19 Bewerberinnen aus ganz Niedersachsen als Siegerin auszuwählen.
„Mädchen brauchen Vorbilder, Frauen Netzwerke“ – dies war eine der Kernaussagen bei der Helene-Lange-Preisverleihung. Trifft das auch auf Ihre Biographie zu?
Auf jeden Fall, dem kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Ich würde vielleicht noch hinzufügen, dass auch Frauen, die keine Mädchen mehr sind, Vorbilder haben sollten – und zwar ganz besonders Vorbilder auf Augenhöhe. Für mich denke ich da konkret an andere Frauen, die ich aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten bewundere und Lust hätte, diese selbst vielleicht ein Stück weit zu erlernen. Als ein ganz hervorragendes Beispiel für Vorbilder auf Augenhöhe würden mir spontan meine beiden Mit-Nominierten, Eva Kern und Maria Rauschenberger, einfallen.
Was, glauben Sie, kann Mädchen heute dazu motivieren, sich für technisch geprägte Berufe zu entscheiden? Oder was hindert sie vielleicht daran?
Ich glaube, Mädchen mangelt es definitiv weder an Talent noch an Begeisterungsfähigkeit. Das Problem könnte darin liegen, dass Mädchen auch heutzutage noch – grade im Bereich Technik – häufig einfach nicht so viel zugetraut wird. Oft bekommen sie dann zu hören: „Das ist nichts für dich – lass das mal lieber den Papa (den Bruder, den Mitschüler…) machen.“ Das geht mir selbst übrigens manchmal heute noch so. Je öfter man diese Sätze hört, desto eher stellt man dann auch die eigenen Fähigkeiten in Frage und trifft andere, womöglich weniger mutige Entscheidungen. Kurz gesagt, wir brauchen weniger „lass mich das machen” und mehr „hier, probier mal”.
Zu den weiteren wichtigen Aspekten gehören für mich: vielfältigere Berufsbilder. Ich glaube, hier hat unsere Gesellschaft noch sehr viel Aufholbedarf. Ich habe während meines Informatikstudiums, aber auch während der Promotion, selbst sehr oft gehört: „Das passt nicht zu dir als Frau”. Um solche traditionellen Vorstellungen von Berufsbildern aufbrechen zu können, müsste man an vielen verschiedenen Stellen ansetzen: Das beginnt bei Spielzeug (z.B. die Lego Raumstation für Jungs, die Puppenküche für Mädchen), geht über Rollenbilder, die wir in (Schul-) Büchern, TV Serien und anderen Medien finden, bis hin zu (implizit) kommunizierten Erwartungen bei Einstellungsgesprächen oder in Projektmeetings. Ich bin immer wieder überrascht, wie präsent traditionelle Berufsbilder in unserem Alltag immer noch sind. Das ist übrigens nicht überall so, es kann auch anders sein: Eine befreundete Wissenschaftlerin hat mir einmal gesagt: „Where I’m from, every good daughter becomes an engineer” [Dort wo ich herkomme, wird jede gute Tochter Ingenieurin]. Um mehr Mädchen in die Technik zu bringen, müsste man also die (gesellschaftliche) Erwartungshaltung ändern: Es sollte einfach kein rebellischer Akt sein, sich als Mädchen für Technik zu interessieren oder sich für einen technisch geprägten Beruf zu entscheiden – oder eben als Junge für einen „Frauenberuf”.
Trotz eines langsam einsetzenden Umdenkens und einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren sind wir von einer gleichberechtigten Teilhabe der Geschlechter an Hochschulen noch weit entfernt. Denken Sie, dass hier Preise wie der Helene-Lange-Preis hilfreich sein können, um Organisationsstrukturen aufzubrechen und Karriereverläufe zu fördern?
Ich bin überzeugt davon, dass Preise wie der Helene-Lange-Preis tatsächlich zwei wichtige Funktionen erfüllen: Sichtbarkeit und Aufwertung. Bei objektiv gleicher Leistung werden Frauen oft als weniger kompetent wahrgenommen. Sie erhalten daher oft gar nicht die Gelegenheit, für einen Preis vorgeschlagen zu werden und dadurch sichtbarer zu werden. Bei der Vergabe von Positionen in Wirtschaft und Forschung gehören Auszeichnungen aber zu den wichtigen Kriterien. Der Helene-Lange-Preis kann daher als eine Art Katalysator wirken: Die Nominierung eröffnet die Möglichkeit, sich wissenschaftlich zu beweisen.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo Ihre Forschung ganz konkret in die Praxis führt bzw. wo sie Anwendung findet?
Beim Design einer neuen Technologie geht es nicht nur darum, „was” entwickelt werden soll, sondern auch um das „Ob” und das „Wie”. Dabei ist es wichtig, dass alle in den Gestaltungsprozess mit eingebunden werden können: Wir nennen das Partizipatives Design. In der Praxis ist das natürlich oft schwierig, da gerade neue Technologien häufig schwer verständlich oder einfach unbekannt sind. Gemeinsam mit den Kolleg*innen von der Uni Oldenburg habe ich daher ein Kartenset entwickelt, das verfügbare Technologieoptionen in ein verständliches Format bringt. In Diskussionsrunden oder Workshops können diese Karten dann eingesetzt werden, um Lösungen zu erarbeiten oder diese ganz wörtlich „greifbarer” zu machen. Unser Kartenset befasst sich ganz konkret mit der Gestaltung von intelligenten, körpergetragenen Kameras und deren Verwendung im sozialen und gesellschaftlichen Kontext – also zum Beispiel die oben genannte „intelligente Brille” im Supermarkt. Dabei spielt natürlich die Privatsphäre der Menschen, die diese Technik nutzen, und auch von Personen, die sich in deren Umgebung aufhalten, eine große Rolle. Wir haben die Vision, dass wir Technologien wie die „intelligente Brille” so einsetzen können, dass sie – anstatt Konflikte zu provozieren – es möglich machen, Kompromisse auszuhandeln. Das Kartenset mit dem Namen „Privacy Mediation Cards” ist derzeit als PDF zum Selbstausdrucken oder auch als Print-on-Demand verfügbar und kann direkt eingesetzt werden.
Neugierig geworden?
Detaillierte Informationen zu den “Privacy Mediation Cards” gibt es hier.